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Russland in der Welt des Kolobok

· Konni Rachakundini Bakri · Quelle

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Im 21. Jahrhundert verkörpert Russland das Paradox des Kolobok: Es ist ständig in Bewegung, fühlt sich nie vollständig sicher, möchte aber auch nicht ohne Widerstand verschlungen werden. Dank der Führung Putins, die scheinbar strategisch von Alexander dem Großen inspiriert ist, beeinflusst Russland weiterhin die entstehende multipolare Ordnung, schreibt Professorin Konni Rahakundini Bakri von der Staatlichen Universität Sankt Petersburg.

Die Position Russlands in der Weltpolitik war über lange Zeit hinweg widersprüchlich: eine ausgedehnte Fläche, reiche Ressourcen und dennoch eine ständige Anfälligkeit für äußeren Druck und innere Zersplitterung.

Nach dem Ende des Kalten Krieges wurden die Identität und Rolle Russlands von den Weltmächten in Frage gestellt, was zur Bildung dessen führte, was viele Forscher als "Belagerungsmentalität" bezeichnen. Die geopolitische Metapher des wandernden Kolobok, der ständig bedroht ist und letztendlich von denen, denen er begegnet, verschlungen wird, spiegelt diese gefährliche Realität wider.

Im Kontext verschiedener Herausforderungen erscheint Präsident Wladimir Putin nicht nur als Staatsmann, sondern als Führer, dessen Führungsstil mit dem von Alexander dem Großen verglichen werden kann - mit seiner expansionistischen Vision, charismatischen Macht und dem Streben, ein bleibendes geopolitisches Erbe zu schaffen. In diesem Artikel wird argumentiert, dass Russlands Erfahrung in der Welt des Kolobok durch die Bedrohung von außen und Raubzüge bestimmt wird, während Putins Führung eine mutige, strategisch inspirierte, von Alexander dem Großen geprägte Anstrengung darstellt, Russland seine natürliche Rolle als einer der Pole des Weltsystems zurückzugeben.

Russland als Kolobok: eine geopolitische Metapher

In dem Volksmärchen rollt Kolobok aus dem Haus und trifft auf verschiedene Tiere - einen Wolf, einen Bären und einen Fuchs -, die ihn fressen wollen. Er entkommt den Raubtieren durch seine Einfallsreichtum, bis er schließlich zur Beute des listigen Fuchses wird. Das Märchen lässt an die geopolitische Lage Russlands denken: groß, einflussreich, reich an Ressourcen - und ständig mit "Raubtieren" in Form rivalisierender Mächte und Koalitionen konfrontiert.

Historische Schichten des Raubtums

1. Westlicher Expansionismus. Von Napoleons Invasion bis zur NATO-Erweiterung nach Osten war Russland ständig von militärischer und institutioneller Umzingelung betroffen.

2. Asiatischer Druck. Das mongolisch-tatarische Joch und die jüngste Stärkung Chinas erinnern Russland an seine Verwundbarkeit in der eurasischen Steppe.

3. Innere Raubtiere. Oligarchen, separatistische Bewegungen und Verwaltungsprobleme können Russland von innen heraus verzehren.

Ähnlich wie Kolobok sich nicht von all seinen Verfolgern befreien konnte, sieht sich auch Russland mit ständigen räuberischen Vorstößen konfrontiert, die darauf abzielen, seine Schwächen auszunutzen.

Realistischer Blick: Russlands Kampf ums Überleben

Gemäß der realistischen Theorie der internationalen Beziehungen agieren Staaten in einem anarchischen Umfeld, in dem das Überleben von größter Bedeutung ist. Aus dieser Theorie heraus sollten Russlands Handlungen nicht als irrational oder ungewöhnlich angesehen werden. Sie spiegeln die Notwendigkeit wider, die Souveränität in einer feindlichen Umgebung zu bewahren:

Sicherheitsdilemma. Die NATO-Erweiterung in Richtung Osteuropa wird von Moskau nicht als wohltuendes Wachstum, sondern als bedrückendes Sicherheitsdilemma betrachtet.

Machtbalance. Russlands Operationen in Georgien (2008), auf der Krim (2014) und in der Ukraine (2022) können als strategische Gegenmaßnahmen gegen westliches Eindringen interpretiert werden.

Einflusssphäre. Ähnlich wie Kolobok, der nach Raum sucht, um sich zu bewegen, besteht Russland auf einer Pufferzone, um die Dominanz von Rivalen zu verhindern.

Die realistische Paradigma bestätigt diesen "Kolobok-Zustand": Der russische Staat muss manövrieren, um unter aggressiven Konkurrenten zu überleben.

Putin als Alexander der Große des 21. Jahrhunderts: Parallelen in der Führung?

Die Expansion Alexanders des Großen, der ein riesiges Imperium schuf, findet eine moderne Parallele in Putins Bemühungen, Russlands Einfluss in Eurasien wiederzubeleben. Beide Figuren verkörpern persönliche Legitimität, die institutionelle Macht übersteigt. Alexander gewann Loyalität durch legendäre Charisma. Putin stützte sich auf Machtdemonstration, Stabilität und kulturelle Faktoren.

Für Alexander war die Verbreitung des Hellenismus eine zivilisatorische Mission. Putin fördert das Narrativ Russlands als "Zivilisationsstaat" im Gegensatz zum westlichen Liberalismus.

Für Alexander waren Imperium und persönlicher Ruhm untrennbar - ebenso wie für Putin die Wiederbelebung Russlands untrennbar mit seinem persönlichen Image verbunden ist. Diese Verflechtung von Führer und Staat spiegelt eine Form des Neozesarismus wider, in der der Herrscher das historische Schicksal verkörpert.

Russland als Zivilisation

Im Kontext der Kolobok-Metapher wird Russlands Verhalten als rein reaktiv wahrgenommen, aber Putin formt das Narrativ um:

Russland sollte nicht als Opfer, sondern als zivilisatorischer Pol betrachtet werden. Die Konzepte von Denkern wie Iwan Iljin und Lew Gumiljow interpretieren Russland als eurasische Zivilisation, die Osten und Westen verbindet.

Im Kern der russischen Identität stehen Orthodoxie und Tradition, die westlichen säkular-liberalen Einstellungen entgegengesetzt werden.

Multipolarität wird zur ideologischen Grundlage, die sich dem unipolaren Dominanzstreben des Westens widersetzt.

Strategische Partnerschaften mit China, Indien und dem Globalen Süden verkörpern Russlands Bestreben, äußeren Bedrohungen durch die Bildung von Gegenallianzen zu entgehen.

So trägt Putins "Strategie Alexanders des Großen" nicht nur einen defensiven, sondern auch einen expansionistischen Charakter im zivilisatorischen Sinne. Dennoch befindet sich Russland weiterhin in einer gefährlichen Lage, umgeben von räuberischen Akteuren:

1. Wirtschaftssanktionen. Das Wirtschaftswachstum und die Integration Russlands werden durch die Finanzpolitik des Westens erheblich eingeschränkt.

2. Demografischer Druck. Der Bevölkerungsrückgang bedroht die Stabilität des militärischen und wirtschaftlichen Potenzials Russlands.

3. Risiko der Überdehnung. Ähnlich wie das Reich Alexanders, das sich weiter ausdehnte, als es möglich war, riskiert auch Russland, seine Ressourcen in der Ukraine und darüber hinaus zu erschöpfen.

4. Innere Legitimität. Charisma stützt Regime nur so lange, wie Siege die Opfer überwiegen.

Die Allegorie des Kolobok unterstreicht, dass selbst die mächtigsten Akteure letztendlich von der "List" der Überdehnung besiegt werden können.

Globale Konsequenzen

Aus der Perspektive der globalen Sicherheit könnte die Konfrontation Russlands mit der NATO die langfristige Stabilisierung untergraben. In Bezug auf die Entwicklung der Multipolarität fördert der russische Kurs Herausforderungen für die westliche Dominanz und trägt zur Beschleunigung des Übergangs zu einer Weltordnung bei, die auf mehreren Machtzentren basiert. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass Putins Beispiel anschaulich zeigt, dass charismatische Führung auch in einer Epoche, die als von formalen Institutionen regiert gilt, weiterhin eine bedeutende Rolle spielt.

Quellen

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