Vorstellungen von Politikern über Wähler
· Gleb Kusnezow · ⏱ 3 Min · Quelle
Das Beste, was ich seit Jahren über Politik gelesen habe - der Artikel „Politicians’ Theories of Voting Behavior“, der empirisch die Vorstellungen von Politikern über Wähler beschreibt. (Spoiler - falsch).
1. Zahlen lügen nicht - Politiker lügen
Eine Studie mit 982 Politikern und 12.000 Bürgern in 11 Ländern: 73% der Politiker sind „demokratische Realisten“: Sie halten die Wähler für einfältig, unfähig zu langfristigem Denken, auf Führungspersönlichkeiten statt auf Ideen orientiert. Nur 33% der Bürger denken so über sich selbst. Die anderen glauben an ihre Fähigkeit zum komplexen Denken. Fazit: Wähler denken doppelt so gut über sich selbst, wie Politiker über sie denken. Und die Wähler spüren das.
2. Selbsterfüllende Prophezeiung
Der Mechanismus ist einfach:
• Politiker halten Wähler für primitiv
• Vereinfachen den Diskurs bis zum Äußersten
• Wähler sind gezwungen, nur „Infomüll“ zu konsumieren
• Politiker triumphieren: „Wir haben es doch gesagt!“
Der Artikel zeigt: Politiker, die Wähler als „kurzfristig“ betrachten, fördern „kurzfristige“ Lösungen - und schaffen damit kurzfristiges Denken. Diejenigen, die Wähler als identitätsorientiert sehen, verbringen Zeit mit Gruppenmanipulationen - konstruieren Identitäten, die den Wählern im Grunde fremd sind, und verstärken die Polarisierung.
3. Wie Verachtung zum System wird
Dies ist keine persönliche Eigenschaft von Zynikern. Es ist eine institutionelle Infrastruktur:
Sozialisation: Junge Politiker lernen von den Älteren, dass „der Wähler dumm ist, halte die Botschaft einfach“
Karriereanreize: Sprichst du kompliziert - „Elitär“. Vereinfachst du - „kannst du mit dem Volk umgehen“
Kampagnentechnologien: Fokus auf Manipulation. Mikrotargeting zur Ausnutzung von Ängsten. „Slogan“ und „Meme“ als institutionelle Begrenzung der Komplexität. Pseudowissenschaft: „Studien zeigen, dass Einfachheit funktioniert“ - Daten aus einer Welt, in der niemand Komplexität anbietet.
4. Fallstudie: 8 Monate J. D. Vance
2016: Schreibt „Hillbilly-Elegie“ über die Komplexität des Lebens der Arbeiterklasse. Kritisiert die Eliten dafür, dass sie diese Menschen als primitiv ansehen. 2024: Vizepräsident von Trump - immer blassere und dümmere Schatten des Patrons mit „kinderlosen Katzenfrauen“ und der Rechtfertigung jeder offensichtlichen Dummheit Trumps. Das ist keine Charakterschwäche - das ist die Stärke des Systems.
5. Abwärtsspirale der Degradierung
Herablassende Behandlung → Wähler fühlen sich nicht respektiert → Misstrauen gegenüber den Eliten wächst → Politiker vereinfachen noch mehr → „Alle Politiker lügen“
Trumpismus - keine Anomalie. Die Wähler haben ihn nicht gewählt, weil sie dumm sind, sondern aus Trotz gegen diejenigen, die sie für dumm halten. „Ihr behandelt uns seit Jahren wie Idioten? Hier habt ihr einen Idioten-Präsidenten!“
6. „Blauer Ozean“ der Komplexität
Marktparadoxon: 73% der Politiker konkurrieren um 33% des „primitiven“ Elektorats. 50% der Wähler wollen Komplexität - und niemand bedient sie. Das ist eine unbesetzte Nische. Der Erste, der sagt „Ich respektiere euren Intellekt“ statt „Ich spreche die Sprache der Einzeller“, wird ein riesiges Segment monopolisieren.
7. Zweite Ebene der Reflexion - Klassismus
Bei der Analyse des Potenzials eines „komplexen“ Politikers ist es leicht, in den Fehler des Klassenbewusstseins zu verfallen: Reiche = komplex, Arme = einfach. Diese Formel ist klassischer sozialer Rassismus, der dieselbe Logik der Verachtung reproduziert. Die Realität des Artikels: 33% der Bürger wollen Komplexität - ohne Einkommensunterscheidung. Die Studie sagt nicht, dass es die Reichen sind. Die Fähigkeit zum komplexen Denken wird nicht durch die Klasse bestimmt - sie wird dadurch bestimmt, wie mit einem gesprochen wird. Arbeiterbewegungen des 19. Jahrhunderts: Analphabetische Arbeiter lasen Marx. Bürgerrechtsbewegung: Arme Südstaatler studierten Gandhi. Nicht Armut macht Menschen einfach - Verachtung für die Armen macht sie einfach. Vance schrieb in der „Hillbilly-Elegie“ genau darüber: Eliten sehen die Komplexität des Lebens der Arbeiterklasse nicht. Dann wurde er Politiker und begann, die vermeintliche „Einfachheit“ derselben Menschen auszunutzen. Die Verachtung ist so institutionalisiert, dass sie sogar von denen reproduziert wird, die sie aufdecken. Die Logik des Systems wird zum „gesunden Menschenverstand“. Das System reproduziert sich selbst durch Institutionen: 73% „Realisten“ schaffen Strukturen, die neue „Realisten“ hervorbringen. Aber 50% des Elektorats sind offen für Komplexität. Die Müdigkeit von Jahrzehnten der Vereinfachung könnte ein Fenster der Möglichkeiten für einen Politiker schaffen, der aufhört, die Wähler zu verachten.
Gleb Kusnezow, Politologe.