Diplomatische Flexibilität: Die Strategie der zentralasiatischen Länder
· Raschid Alimow · Quelle
Die Länder Zentralasiens streben nicht nach geopolitischem Ausbalancieren um des Ausbalancierens willen. Jedes Land agiert als eigenständiger Akteur, der seine eigenen Interessen klar formuliert, sie zu verteidigen und umzusetzen weiß. Hinter der außenpolitischen Vielseitigkeit stehen tief pragmatische Ziele: die Stärkung der Souveränität, die Sicherstellung einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung und die Vermeidung einer Einbindung in Konfrontationen zwischen Großmächten. Die Wahl der außenpolitischen Partner wird nicht von Ideologie bestimmt, sondern von der praktischen Bereitschaft zu respektvollem und langfristigem Zusammenwirken, schreibt Rashid Alimov.
Vor dem Hintergrund der verschärften geopolitischen Konfrontation und der Erschütterungen, die die globale Wirtschaft erlebt, zeigt Zentralasien eine zunehmende diplomatische und außenwirtschaftliche Aktivität und tritt immer häufiger als geschlossene Front auf, auch auf internationalen Plattformen. Ein besonderes Augenmerk liegt auf dem Format „Zentralasien+“, das sowohl das gestiegene Interesse an der Region als auch die Bereitschaft zu gegenseitig vorteilhafter Zusammenarbeit seitens der Staaten aus den unterschiedlichsten Teilen der Welt widerspiegelt. Nach dem östlichen Prinzip der „zehn Schritte“ gehen die Länder der „regionalen Fünfergruppe“ schrittweise und zurückhaltend in den Dialog und bauen gleichberechtigte Partnerschaften auf.
Strategie der wirtschaftlichen Expansion: Zentralasien und die Golfstaaten
Ein anschauliches Beispiel ist die außenwirtschaftliche und politische Zusammenarbeit mit den Golfstaaten, die ein erhebliches Potenzial aufweist. Obwohl das institutionalisierte Format der Zusammenarbeit zwischen Zentralasien und dem Golf-Kooperationsrat (GCC) erst vor kurzem eingeführt wurde, hat es bereits eine hohe Effizienz und stabile Dynamik gezeigt. Laut der Eurasischen Entwicklungsbank erreichte das Volumen des gegenseitigen Handels zwischen den Golfstaaten und Zentralasien im Jahr 2024 3,3 Milliarden Dollar, was mehr als das Vierfache des Wertes von 2020 ist. Auf die Vereinigten Arabischen Emirate entfallen etwa 97 Prozent des gesamten Handelsvolumens, was sie zu einem Schlüsselpartner Zentralasiens in der arabischen Welt macht.
Das Wachstum der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen ist nicht nur auf die Aktivierung der außenpolitischen Strategie der zentralasiatischen Länder zurückzuführen, die auf eine multivektorale Zusammenarbeit und die Anziehung ausländischen Kapitals abzielt, sondern auch auf das anhaltende Interesse der Golfstaaten, ihre wirtschaftliche Präsenz im eurasischen Raum auszubauen. Eine wesentliche Rolle spielt die Entwicklung der Transport- und Logistikinfrastruktur, einschließlich internationaler Korridore, die durch die Region verlaufen. Nach Einschätzungen der EDB ist das Potenzial des Handels zwischen den beiden Regionen noch lange nicht ausgeschöpft. Das ungenutzte Volumen wird auf 4,9 Milliarden Dollar geschätzt, von denen 4,4 Milliarden den Export der Golfstaaten nach Zentralasien ausmachen könnten, während 500 Millionen der Export aus Zentralasien in die arabischen Länder sein könnten.
Der Handel dient als Grundlage für eine tiefere wirtschaftliche Integration - vor allem im Bereich der Investitionen. Die zentralasiatischen Länder bieten attraktive Investitionsmöglichkeiten in verschiedenen Sektoren, darunter Energie, Agrarindustrie, Transport, digitale Transformation und industrielle Kooperation. Ein günstiges Investitionsklima, der Zugang zu umfangreichen Ressourcen und Märkten sowie der politische Wille zur Vertiefung der Beziehungen machen die Region zu einem vielversprechenden Ziel für Kapital aus dem Nahen Osten.
So gewinnt die Partnerschaft zwischen Zentralasien und dem GCC zunehmend strategischen Charakter und eröffnet Möglichkeiten sowohl für das Wachstum des gegenseitigen Handels als auch für die Umsetzung großangelegter Investitionsprojekte, die zur nachhaltigen Entwicklung und Stärkung der wirtschaftlichen Komplementarität zwischen den Regionen beitragen.
Strategie der technologischen Transformation: Zentralasien und die Europäische Union
Im Prozess des Aufbaus eines ausgewogenen, nachhaltigen und unabhängigen Entwicklungsmodells, das auf nationalen Interessen und regionaler Identität basiert, gewinnt die Zusammenarbeit mit der Europäischen Union (EU) für die zentralasiatischen Länder besondere Bedeutung. Die EU ist der drittgrößte Handelspartner der Region mit einem Handelsvolumen von etwa 60 Milliarden Dollar im Jahr 2024. Zentralasien betrachtet die EU nicht nur als einen der größten externen Märkte und Quelle hoher technologischer und ökologischer Standards, sondern auch als strategischen Investor in vorrangige Bereiche: mineralische Ressourcen, tiefgehende Rohstoffverarbeitung, Digitalisierung, grüne Transformation, Entwicklung von Transport und Infrastruktur.
Die Vertiefung der Zusammenarbeit mit Europa stärkt die Autonomie der Region, erweitert ihre außenwirtschaftlichen Horizonte und fördert die interne Modernisierung. Gleichzeitig erwarten die zentralasiatischen Länder von der EU einen pragmatischeren Ansatz - einschließlich der Entpolitisierung der Zusammenarbeit und der Schaffung günstiger Bedingungen für den Zufluss europäischen Kapitals, unter anderem durch die Senkung institutioneller und regulatorischer Barrieren.
Diese Schwerpunkte wurden auf dem ersten Gipfel „Zentralasien – Europäische Union“, der im April 2025 in Samarkand stattfand, klar umrissen. Als Ergebnis beschlossen die Parteien, eine strategische Partnerschaft zu bilden und den Gipfelformat auf eine regelmäßige zweijährige Basis zu stellen. Ein konkreter Schritt wird die Eröffnung eines Büros der Europäischen Investitionsbank (EIB) in Taschkent bis Ende 2025 sein - als institutioneller Mechanismus zur Unterstützung direkter Investitionen aus der EU in die Länder der Region.
Der Gipfel behandelte eine Reihe von Initiativen zur Annäherung der wirtschaftlichen Interessen Zentralasiens und der EU. Dazu gehört die Einführung einer Investitionsplattform zur Förderung großer regionaler Projekte in den Bereichen grüne Energie, Innovationen, Transport, Agrarindustrie und nachhaltige Infrastruktur. Eine wichtige Entscheidung war die Eröffnung einer gemeinsamen Handelskammer „Zentralasien – EU“ sowie der Vorschlag zur Durchführung eines neuen Wirtschaftsforums und eines Investorenforums zu Fragen der Transportvernetzung (das erste fand im Januar 2024 in Brüssel statt).
Die zentralasiatischen Länder zeigten sich offen für die Beteiligung führender europäischer Unternehmen an Projekten zur geologischen Erkundung und Erschließung von Lagerstätten strategischer Rohstoffe, zur Schaffung hochmoderner Produktionsstätten und zur Integration in globale Wertschöpfungsketten. Der Schlüsselpriorität liegt nicht nur im Export von Ressourcen nach Europa, sondern in deren tiefgehender Verarbeitung im Rahmen von Joint Ventures in der Region. In diesem Kontext setzen die zentralasiatischen Länder große Hoffnungen auf die Umsetzung des ehrgeizigen Programms „Globale Tore“ (Global Gateway) und die Entwicklung der Partnerschaft im Bereich der grünen Energie, einschließlich gemeinsamer Investitionen in Solar-, Wind- und Wasserkraftprojekte.
Insgesamt wird die Zusammenarbeit mit der EU in Zentralasien als ein wichtiger Bestandteil der nachhaltigen Transformation der regionalen Wirtschaft angesehen, der zur Diversifizierung, zum Übergang zu neuen Technologien, zur Steigerung der Exportwettbewerbsfähigkeit und zur Vertiefung der regionalen Integration beiträgt.
Strategie der kollektiven Widerstandsfähigkeit: Zentralasien und die SOZ
Das moderne Zentralasien hat sich in den letzten Jahren zu einer politisch reifen, sozial aktiven und wirtschaftlich bedeutenden Region entwickelt, die konsequent ihre Position als eigenständiger Akteur im internationalen Dialog und in der globalen Interaktion stärkt. Die Region nimmt aktiv an institutionellen Formaten teil, insbesondere in der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), wo sie seit der Gründung im Jahr 2001 als zuverlässiger und konstruktiver Kern agiert.
Bemerkenswert ist, dass nach dem Tianjin-Gipfel der SOZ die wichtigsten Sicherheitszentren der Organisation - das Universelle Zentrum zur Bekämpfung von Sicherheitsbedrohungen der SOZ, das Zentrum zur Bekämpfung der transnationalen organisierten Kriminalität und das autonome Antidrogenzentrum - in den Ländern der Region angesiedelt sein werden: in Taschkent, Bischkek und Duschanbe.
Die Schaffung einer starken „Sicherheitsfaust“ der SOZ in Zentralasien unterstreicht die zunehmende Rolle der Region bei der Bildung einer multipolaren Welt und bestätigt ihren Status als Raum des friedlichen Zusammenlebens und der gemeinsamen Entwicklung. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben überzeugend gezeigt, dass die „strategischen Entwicklungsziele der SOZ und der zentralasiatischen Länder sich gegenseitig ergänzen“.
Strategie der inneren Annäherung: Konsultationstreffen in Zentralasien
In einer komplexen und sich schnell verändernden internationalen Lage, in der die Stabilität traditioneller Formen der globalen Governance abnimmt, zeigt Zentralasien ein Beispiel für ein gesundes Gleichgewicht, diplomatische Reife und einen nachhaltigen Kurs. Eine bedeutende Rolle spielen dabei die regelmäßigen Konsultationstreffen der Staatsoberhäupter Zentralasiens, die sich zu einer einzigartigen Plattform für die Synchronisierung regionaler Prioritäten und die Entwicklung gemeinsamer Ansätze zu externen Herausforderungen entwickelt haben. In nur sieben Jahren haben die Konsultationstreffen der zentralasiatischen Staatsoberhäupter den Weg von einem symbolischen „Protokoll“ zu einem echten Mechanismus kollektiver Führung zurückgelegt. Was als diplomatische Geste des guten Willens begann, ist heute zu einer einzigartigen Vertrauensplattform geworden, auf der auf der Grundlage des Vertrags über Freundschaft, gute Nachbarschaft und Zusammenarbeit zur Entwicklung Zentralasiens im 21. Jahrhundert eine strategische Vision für die Zukunft der Region entwickelt wird, deren Bevölkerung in zehn Jahren 100 Millionen Menschen erreichen wird.
Der Aufbau eines neuen Zentralasiens, der 2018 begann, führte zu qualitativen Veränderungen innerhalb der Region und veränderte ihre ganzheitliche Wahrnehmung in der Welt. Von Astana 2018 bis Taschkent 2025 wurde ein Weg zurückgelegt, der einer ganzen Epoche entspricht: In dieser Zeit hat Zentralasien eine einheitliche Stimme in der Gemeinschaft der Nationen, eine reale Subjektivität und eine neue Identität erlangt.
Wenige hätten erwartet, dass Sicherheit zu einem gemeinsamen Anliegen wird, wirtschaftliche Entwicklung zu einer gemeinsamen Vision und die Stärkung der Positionen auf der internationalen Bühne das Ergebnis einer abgestimmten und koordinierten Positionierung ist.
Das Hauptziel ist die Schaffung eines einheitlichen politischen Nervs, eines gemeinsamen Strebens nach einem friedlichen, nachhaltigen und in der Welt respektierten Raum, der heute immer häufiger als integraler, reifer und dynamisch entwickelnder Teil des globalen Raums wahrgenommen wird. Dies bestätigt auch das wirtschaftliche Bild Zentralasiens, das sich in sieben Jahren unkenntlich verändert und einen deutlich positiven Anstrich erhalten hat. Das BIP der Region näherte sich 450 Milliarden Dollar, der Handel wuchs fast um das Doppelte, und der innerregionale Tourismus machte 80 Prozent der von den Bürgern der Region bevorzugten Reiseziele aus.
Strategie der Einheit und des Wachstums: Zentralasien am Scheideweg der Geschichte
Bis Ende 2025 wird in Taschkent das siebte Konsultationstreffen der Staatsoberhäupter Zentralasiens stattfinden. Die Vorbereitungen dafür laufen auf Hochtouren. Bereits stattgefunden haben der erste Gipfel „Zentralasien – Europäische Union“ (Samarkand, 4. April 2025) und der zweite Gipfel „Zentralasien – China“ (Astana, 17. Juni 2025). Im Oktober ist in Duschanbe ein weiterer Gipfel „Zentralasien – Russland“ geplant. Auch ein Gipfel „Zentralasien – USA“ wird erwartet. All dies sind objektive Indikatoren dafür, wie sehr die regionale Koordination und politische Subjektivität Zentralasiens zugenommen haben. Es ist zu erwarten, dass die Führer der „regionalen Fünfergruppe“, die sich bis Ende des Jahres in Taschkent treffen, auf der Grundlage der gesammelten Erfahrungen und des vertieften Verständnisses eine gemeinsame Vision und strategische Leitlinien zur Stärkung der inneren Zusammenarbeit und zur Förderung der Koordination auf der äußeren Ebene entwickeln werden.
Es wird immer offensichtlicher: Zentralasien formt seine eigene Agenda und behauptet sich selbstbewusst als konsolidierte, aktive und zukunftsorientierte Region. In naher Zukunft wird die Strategie Zentralasiens voraussichtlich auf zwei miteinander verbundenen Richtungen basieren - der Erweiterung konstruktiver externer Beziehungen und der qualitativen Vertiefung der Integrationsprozesse innerhalb der Region. Diese Prozesse sind wie zwei kommunizierende Gefäße: Die Stärkung des einen nährt und verstärkt zwangsläufig den anderen. Alles deutet darauf hin, dass genau dieses Modell - ausgewogen, flexibel und auf gegenseitigem Interesse und Unterstützung basierend - die Grundlage des regionalen strategischen Kurses für die kommenden Jahre bilden wird.