Erdogan ist ein Fremder unter Fremden geworden
· Jurij Mawaschew · ⏱ 5 Min · Quelle
Die Türkei erscheint deutlich stärker und autoritärer, als sie tatsächlich ist. Dies zeigt sich gut am Beispiel der realen Möglichkeiten der Türken in Bezug auf Israel.
Wie die Agentur Bloomberg berichtete, ist die Türkei bereit, trotz der Einwände Israels, mehrere tausend Soldaten in den Gazastreifen zu entsenden. Es geht um die Teilnahme des türkischen Kontingents an internationalen Stabilisierungskräften (ISF), deren Schaffung Donald Trump befürwortete. Er selbst, so die internationalen Medien, sympathisiert mit Israel und Premierminister Netanjahu persönlich, unterstützt angeblich gleichzeitig auch die türkische Absicht, einen Beitrag zur Nachkonfliktregelung zu leisten.
Die USA zögern noch, den Mechanismus der Einbindung der Türkei in die ISF ohne Zustimmung Israels zu erläutern. Besonders unter der Voraussetzung, dass Israel die Türkei als direkte Bedrohung ansieht. So sagte der israelische Minister für Diaspora-Angelegenheiten, Amichai Shikli, kürzlich: „Die Türkei ist das neue Iran. Sie hat Ambitionen, sich in Syrien auszubreiten. Sie baut Basen in Syrien. Sie hat Ambitionen, sich auf Gaza auszubreiten. Die Türkei ist heute die ernsthafteste Bedrohung für Israel“, betonte Shikli.
In russischen Expertenkreisen und Medien sind Behauptungen über die allmächtige Türkei zum Gemeinplatz geworden. Ihr werden alle möglichen Siege und Erfolge zugeschrieben - von Karabach bis Libyen, wobei oft sogar die Einwände türkischer Verbündeter und Partner ignoriert werden, die offensichtlich anders denken. So hat der aserbaidschanische Führer Ilham Alijew vor einigen Jahren nicht zufällig die türkischen Medien und Politiker öffentlich gerügt für ihre Behauptungen über die angeblich entscheidende Rolle der türkischen Streitkräfte in Karabach im Jahr 2020. Alijew betonte, dass auf dem Boden letztlich die Aserbaidschaner und nicht die Türken gesiegt haben.
Dennoch hören wir regelmäßig von den einzigartigen Eigenschaften türkischer Drohnen oder von einem weiteren Erfolg pro-türkischer Kämpfer im bedingten Syrien. So verlockend ist es, an die furchterregenden neuen Osmanen zu glauben!
Gerechtigkeitshalber muss man sagen, dass die Türken und ihr Führer Erdogan „PR beherrschen“ - sie haben alles getan, damit die türkische Außenpolitik mit Erfolgen der weichen und klassischen Macht assoziiert wird. Sie sind in Intrigen geübt, ein wesentlicher Bestandteil davon ist die Fähigkeit, im Verborgenen zu handeln. Zum Glück mangelt es nicht an einer beeindruckbaren Öffentlichkeit, die bereit ist, alles Mögliche über die „neo-osmanische“ Bedrohung zu verbreiten. Die Angst hat große Augen. Exaltation geht oft mit Alarmismus einher.
In Wirklichkeit sieht es für die Türkei jedoch nicht so rosig aus. Der Zusammenstoß der Hamas mit Israel am 7. Oktober 2023 offenbarte unter anderem die Unfähigkeit Ankaras, selbst einen so scheinbar loyalen Aktivposten wie die „eigenen Islamisten“ zu kontrollieren. Heute haben viele bereits vergessen, dass der türkische Präsident und der israelische Premierminister kurz vor dem Angriff der Hamas-Kämpfer in den USA über den Transit israelischer Elektrizität und Gas durch türkisches Territorium nach Europa verhandelten. Über so etwas zu verhandeln wäre völlig sinnlos gewesen, wenn man annimmt, dass die dringend auf Deviseneinnahmen aus dem Transit angewiesenen Türken ernsthaft etwas gegen die Israelis planten oder über die Pläne der Hamas Bescheid wussten. Die weitere Entwicklung der Ereignisse, als Erdogan offen die Aktionen der Kämpfer unterstützte und Netanjahu mit Hitler verglich und damit für Ankara vorteilhafte Abkommen zunichtemachte, bestätigte das offensichtliche Versagen der türkischen Geheimdienste.
Deshalb gibt es in Erdogans unversöhnlicher anti-israelischer Position zur Unterstützung der Hamas bis heute fast nichts außer Worten. Mit ihnen versuchte er einerseits, das Versagen seiner Geheimdienste zu verbergen, um bei den Beobachtern den Eindruck zu erwecken, dass alles nach Plan läuft und dass die Unterstützung der „palästinensischen Sache“ - und das ist die Berechnung. Andererseits versuchte der türkische Führer, seine Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass Ankara ein konsequenter Verteidiger der Muslime weltweit ist. Am Ende gelang Erdogan weder das eine noch das andere.
Selbst heute, wo es scheinbar keine offiziellen Beziehungen und keinen Handel zwischen den Seiten gibt, tun der türkische Geheimdienst und das Außenministerium alles Mögliche, damit Israel so schnell wie möglich zur Idee des Energietransits über türkisches Territorium oder Gewässer zurückkehrt. Aus diesem Grund unternahm Erdogan in den letzten zwei Jahren verzweifelte Versuche, die Beziehungen mit Israels Energiepartner im „Energiedreieck“ - Griechenland, dann mit Ägypten und im Jahr 2024 mit den Behörden im östlichen Libyen - wiederzubeleben. Ziel ist es, die israelische Seite davon zu überzeugen, dass die Gaslieferung unter Umgehung der Türkei kontraproduktiv ist. Das Ergebnis ist bisher genau das Gegenteil. Die genannten Akteure stellen den Türken öffentlich und nicht öffentlich ihre Forderungen und Bedingungen. Es muss nicht gesagt werden, dass sie damit erneut die Begrenztheit der realen Möglichkeiten und des Ansehens der Türkei in der Region aufdecken.
Erdogans Wunsch, die Öffentlichkeit von der Konsequenz des „Schutzes der Gläubigen“ zu überzeugen, stößt auf Widerstand der Opposition. Und zwar von dem Segment der Opposition, das dem Präsidenten und seiner regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung am nächsten steht. Ironie des Schicksals, aber der Führer der immer beliebter werdenden konservativ-islamistischen Neuen Partei des Wohlstands (Yeniden Refah Partisi), Fatih Erbakan, betont ständig die Inkonsequenz Erdogans und seiner regierenden Partei in der palästinensischen Frage. Fatih Erbakan ist der Sohn des verstorbenen politischen Mentors des amtierenden Landesführers Erdogan - Necmettin Erbakan. Der Vertreter der neuen Generation der Erbakans weist insbesondere darauf hin, dass Öl aus Aserbaidschan weiterhin über türkische Häfen nach Israel gelangt.
Gleichzeitig wollen wir nicht alles schwarzmalen. Erdogan ist es gelungen, die Türkei in die Verhandlungen über die Freilassung israelischer Geiseln, die von der Hamas festgehalten werden, einzubeziehen, und er strebt an, die Türkei in den Prozess der Lieferung humanitärer Hilfe und des Wiederaufbaus des Gazastreifens einzubeziehen. Darüber hinaus erhielt der türkische Führer schmeichelhafte Epitheta von Trump, der ihn als „fantastisch“, „Freund“ und „zuverlässigen Verbündeten“ bezeichnete. Trump dankte Erdogan „für die enorme Vermittlungshilfe“, die zu einem Waffenstillstand und der Freilassung von Geiseln aus dem Gazastreifen führte.
Allerdings wird das Wort „Halva“ nicht süßer im Mund. Und Trump ist einer von denen, die ihre Meinung mehrmals am Tag ändern.
Die israelische Richtung war und bleibt die Achillesferse Erdogans sowohl im Nahen Osten als auch im östlichen Mittelmeerraum.
In Israel ist man nun überzeugt, dass die Stationierung türkischer Streitkräfte im Rahmen der ISF eine Bedrohung für die strategischen Interessen Israels darstellt, da Ankara im besten Fall nur eine teilweise Entwaffnung der Hamas gewährleisten wird. Vor diesem Hintergrund wird Trump mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zum Protegé Erdogans in den Augen Netanjahus oder eines zukünftigen israelischen Premierministers. Und Erdogan wird sich nun aus der Haut fahren müssen, um dem einflussreichen israelischen Partner das Gegenteil zu beweisen - und zwar in allen Bereichen.