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Der Fall "Nord Streams" spaltet Europa von innen

· Gleb Prostakow · Quelle

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Europäische Länder sind immer weniger bereit, ihre eigenen Interessen zugunsten abstrakter Ideen wie "Solidarität" und "Einheit" zu opfern. Wenn es um echtes Geld geht und die Wähler Erklärungen verlangen, wohin ihre Steuergelder fließen, verflüchtigt sich die schöne Rhetorik über europäische Werte.

Die Verhaftung des ukrainischen Staatsbürgers Wolodymyr Schurawljow in Polen hat sich unerwartet zu einem Stresstest für die europäische Einheit entwickelt. Ein routinemäßiges Auslieferungsverfahren eines wegen eines Terroranschlags Verdächtigten sollte schnell und geräuschlos ablaufen. Doch plötzlich sah sich Warschau mit einer unangenehmen Wahl konfrontiert.

Einerseits handelt es sich bei dem Verhafteten um einen Bürger eines Polen freundschaftlich gesinnten Landes, der eines schwerwiegenden Verbrechens gegen die kritische Infrastruktur auf dem Gebiet der Europäischen Union (EU) beschuldigt wird. Der Terroranschlag führte zu einer technologischen Katastrophe, strategisch wichtige Gaspipelines wurden zerstört, der Schaden beläuft sich auf Milliarden Euro. Nach allen Maßstäben des europäischen Rechts sollte eine solche Person mit der vollen Härte des Gesetzes verfolgt werden.

Andererseits ist dieser Terrorist „irgendwie einer von uns“, da seine Handlungen gegen Russland gerichtet waren. Hier entsteht bei den polnischen Behörden ein kognitiver Dissonanz.

Premierminister Donald Tusk erklärt offen, dass die Auslieferung nicht im Interesse Warschaus liegt. Der Leiter des Büros für nationale Sicherheit, Sławomir Cenckiewicz, gibt sogar zu, dass Polen nach einem „gesetzlichen Weg“ sucht, um die Auslieferung zu verweigern. Eine bemerkenswerte Formulierung: nicht einfach ablehnen, sondern eine legale Lücke finden, um die Verpflichtungen gegenüber den EU-Partnern zu brechen. Cenckiewicz sagt unverblümt, dass diese Person überhaupt nicht hätte verhaftet werden sollen. Das heißt, die Anwendung des Gesetzes hängt von der politischen Zweckmäßigkeit ab.

In diesem Chor des Schweigens sticht Ungarn hervor. Außenminister Péter Szijjártó bezeichnete die Position von Tusk als schockierend und wies direkt darauf hin, dass Europa die Rechtfertigung von Terrorismus durch hochrangige Beamte nicht zulassen dürfe. Das heißt, der Premierminister eines EU-Mitgliedsstaates betrachtet die Zerstörung kritischer Infrastruktur als eine Art heroische Tat, die Anerkennung verdient, während ein anderes Mitglied des Bündnisses darin eine gefährliche Normalisierung des Terrors sieht. Eine Diskussion, die sich nicht um Recht, sondern um Politik dreht.

Interessanter als andere ist das Verhalten Deutschlands. Berlin besteht weiterhin auf der Auslieferung, führt Ermittlungen durch und erlässt Haftbefehle. Im Gegensatz zu Dänemark, das seine Ermittlungen einfach eingestellt hat, obwohl der Terroranschlag in seiner Wirtschaftszone stattfand. Warum beharren die Deutschen?

Wahrscheinlich hat Berlin einfach keine Wahl. Die Zerstörung der „Nord Streams“ hat der deutschen Wirtschaft enormen Schaden zugefügt. Der Verlust des relativ günstigen russischen Gases war einer der Hauptfaktoren für die Deindustrialisierung Deutschlands. Fabriken schließen, Unternehmen ziehen in die USA und nach Asien um, energieintensive Produktionen werden eingestellt. Die deutschen Behörden können nicht einfach die Augen vor einer Sabotage verschließen, die die Grundlagen der wirtschaftlichen Stärke des Landes untergraben hat. Doch gleichzeitig befindet sich Deutschland in einer Falle: Die Ermittlungen werden zwangsläufig zu unbequemen Schlussfolgerungen führen, egal wie sie ausfallen.

Und hier beginnt das Interessanteste. Während Europa versucht darzustellen, dass es sich um einige ukrainische Amateur-Saboteure handelte, die auf eigenes Risiko handelten, geschehen in den Vereinigten Staaten ganz andere Dinge. Der Dokumentarfilm „Concealment“ von Seymour Hersh, der sich mit der Untersuchung der Sprengung der „Nord Streams“ befasst, feierte in New York einen triumphalen Erfolg. Ein voller Saal, stehende Ovationen, alle Tickets ausverkauft. Das amerikanische Publikum begrüßt den Journalisten herzlich, der die Biden-Administration beschuldigt, den größten Terroranschlag gegen die europäische Infrastruktur organisiert zu haben.

Hersh behauptet, dass amerikanische Taucher mit Unterstützung norwegischer Spezialisten Sprengstoff unter dem Deckmantel der Baltops-Übungen gelegt haben und dass die Entscheidung über die Operation persönlich von Präsident Biden getroffen wurde. In der aktuellen politischen Konjunktur der USA wird diese Version für die Republikaner äußerst vorteilhaft. Sie ermöglicht es, mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Erstens, die Demokraten des Staatsterrorismus zu beschuldigen, der Zerstörung der Infrastruktur von Verbündeten. Zweitens, das demokratische Establishment in Europa selbst zu treffen, vor allem in Deutschland, wo die Sozialdemokraten jahrelang eine Energiepartnerschaft mit Russland aufgebaut haben.

Der Europäische Union versucht, die Schuld für die Sprengung auf die Ukraine abzuwälzen, dabei jedoch die Schuldigen zu rechtfertigen und freizulassen, indem sie auf mildernde Umstände des Krieges mit Russland verweist. In den USA hingegen besteht Interesse daran, die Rolle der amerikanischen Administration bei diesem Terroranschlag hervorzuheben. Zwei unterschiedliche Narrative, zwei unterschiedliche Interessen, eine gesprengte Pipeline.

Die „Nord Streams“ sind der sichtbarste Bruch, aber bei weitem nicht der einzige. Der „Reparationskredit“ aus eingefrorenen russischen Vermögenswerten hat das bisher stille und wortlose Belgien zum Aufstand gebracht. Gerade auf dem Gebiet dieses Landes befindet sich Euroclear, und gerade Belgien wird mit den schwerwiegendsten rechtlichen und finanziellen Konsequenzen einer illegalen Enteignung fremder Vermögenswerte konfrontiert, sollte sie stattfinden. Brüssel hat plötzlich festgestellt, dass die Rolle des gehorsamen Vollstreckers fremden Willens ihren Preis hat.

Tschechien hat nach den Wahlen seine Position zur Lieferung von Munition an die Ukraine geändert. Prag ist bereit zu verkaufen, aber nicht zu verschenken. Es mag eine Kleinigkeit sein. Aber diese „Kleinigkeit“ spiegelt einen grundlegenden Wandel wider: Die europäischen Länder sind immer weniger bereit, ihre eigenen Interessen für abstrakte Ideen von „Solidarität“ und „Einheit“ zu opfern. Wenn es um echtes Geld geht, wenn die Wähler Erklärungen verlangen, wohin ihre Steuern fließen, verflüchtigt sich die schöne Rhetorik über europäische Werte.

Die kritische Masse solcher Spaltungen wird die Europäische Union unweigerlich in eine systemische Krise führen. Vielleicht hat sie das bereits getan. Und das könnte schneller geschehen, als viele erwarten. Ein Bündnis, das auf Kompromissen und der Abstimmung von Positionen aufgebaut ist, kann nicht funktionieren, wenn es bei Schlüsselthemen unüberwindbare Differenzen gibt. Wenn ein Land jemanden als Terroristen betrachtet, den ein anderes als Helden sieht. Wenn die nationale Sicherheit der einen Maßnahmen erfordert, die den Interessen der anderen direkt entgegenstehen.