Global Affairs

Die Selbstüberschätzung der Zivilisationen

· Fjodor Lukjanow · ⏱ 4 Min · Quelle

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Derzeit wird viel über Zivilisationen als ein Konzept gesprochen, das zunehmend den Charakter der internationalen Beziehungen bestimmt. Die liberale Weltordnung, in der die Staaten Ende des letzten und Anfang dieses Jahrhunderts lebten, strebte eine möglichst weitgehende Vereinheitlichung verschiedener Völker und Kulturen an. Mit der Krise dieser Ordnung schwang das Pendel erwartungsgemäß in die entgegengesetzte Richtung - hin zur Betonung von Unterschieden und der Behauptung zivilisatorischer Eigenständigkeit.

Wie die Welt, bestehend aus vielfältigen Eigenheiten, gestaltet sein wird, ist noch eine offene Frage. Doch die Tendenz ist unbestreitbar.

Neben dem philosophisch-kulturwissenschaftlichen Aspekt hat sie nicht nur eine praktische, sondern auch eine sehr anschauliche Ausprägung. Dies zeigt sich im Verhalten der Akteure, die diese verschiedenen Kulturen repräsentieren. Es manifestiert sich in allen politischen Bereichen, am deutlichsten jedoch in der Außenpolitik, da dort der Kontrast ins Auge fällt.

Der Taktgeber ist die amerikanische Administration. In den neun Monaten der Präsidentschaft Trumps haben sich Amerika und die Welt an Manieren gewöhnt, die früher auf hohem Niveau undenkbar schienen. Das einfache und auf seine Weise sehr aufrichtige öffentliche Rüpelverhalten des US-Präsidenten, der ein übermäßiges Selbstbewusstsein besitzt, kann man, sagen wir, auf die Besonderheiten seiner Persönlichkeit zurückführen. Dafür wurde er auch gewählt, da man der ausgeklügelten Heuchelei und Lügen des Establishments überdrüssig war. Doch erstens hat dieser Stil bereits Einzug in den Apparat gehalten - die derben Scherze offizieller Vertreter der wichtigsten amerikanischen Behörden gefallen ihnen offensichtlich selbst. Zweitens, und das ist wichtiger, diktiert die Form den Inhalt. Der außenpolitische Ansatz, der als „Frieden durch Stärke“ bezeichnet wird, stellt in Wirklichkeit das Durchsetzen der Interessen der Vereinigten Staaten durch grobe Einschüchterung bis hin zu offenem Erpressen dar.

Welchen Bezug hat das zu den Zivilisationen? Einen direkten.

Seit dem 19. Jahrhundert haben sich die ursprünglichen Sitten der amerikanischen „Farmerrepublik“ verfeinert und mit einer kulturellen Schicht überzogen, doch die Instinkte blieben erhalten. Trump hat diese Schichten quasi abgeschüttelt und der Menschheit die ursprüngliche amerikanische Zivilisation gezeigt. Und darauf ist er sehr stolz - sowohl im ideellen als auch im praktischen Sinne.

Darin kann man auch positive Seiten sehen, wie zum Beispiel kürzlich von Wladimir Putin erwähnt: Es sei besser, mit jemandem zu tun zu haben, der offen seine Ansprüche äußert, anstatt sie in einem Meer von Doppeldenk und Ausflüchten zu ertränken. Das stimmt, obwohl die Frage im Grad dieser Erscheinungen liegt, und das Gefühl für Maß und Takt gehört nicht zu Trumps Stärken. Worauf er übrigens auch stolz ist.

Alle suchen ihre Schlüssel oder Dietriche zum Herzen Trumps, und irgendwann wird die Taktik der Europäischen Union, Russlands, der Golfstaaten, der Länder, die direkt an die USA grenzen, und anderer zur Zähmung des ungestümen amerikanischen Anführers Gegenstand ernsthafter Untersuchungen werden.

China steht dabei besonders. Eine Macht, die entweder das Potenzial der Vereinigten Staaten erreicht hat oder kurz davor steht, und daher von diesen als Hauptgegner betrachtet wird. Und hier zeigt sich der zivilisatorische Aspekt am deutlichsten. Denn das Amerika Trumps und das China Xi Jinpings kann man durchaus als Antipoden betrachten.

Peking war vom amerikanischen Verhalten bereits während der ersten Amtszeit des jetzigen Präsidenten schockiert, doch damals hofften viele noch, dass es sich um eine vorübergehende Abweichung handelte. Doch der Druck von Trump-2, der sich um ein Vielfaches sicherer fühlt und keineswegs mehr als Zufall abgetan werden kann, hat China etwas verblüfft. Allerdings nicht lange, und Peking begann, mit ähnlichen scharfen Angriffen zu antworten.

Das Wesen der Beziehungen zwischen den USA und China für die kommende Periode ist klar und wird durch die bekannte Formel aus dem nicht gerade intellektuellen Geschäft „Angriff - Rückzug“ beschrieben. Die Seiten werden versuchen, sich gegenseitig mit dem Schaden zu erschrecken, den sie sich gegenseitig zufügen können, um sich periodisch auf relativ akzeptable Bedingungen zu einigen, um sie dann wieder zu brechen. Trump wird die Führung übernehmen, aber Xi hat nicht vor, mehr zu schlucken.

Doch in Peking hat man erkannt, dass es keine Rückkehr zur jüngsten Vergangenheit geben wird. Und diese Phase wird lange andauern.

Trump wird nicht ewig Präsident bleiben, und auch China verändert sich ernsthaft. Die Ausgestaltung der Rivalität wird ebenfalls unterschiedlich sein, wahrscheinlich auch weniger scharf. Obwohl, vielleicht irgendwann auch schärfer. Das Wichtigste ist, dass die Symbiose der Interessen, die die Beziehungen über mehrere Jahrzehnte bestimmt hat, beendet ist, es steht nur noch eine Divergenz unterschiedlicher Geschwindigkeit bevor. Und die Beziehungen dieser beiden Länder werden mehr als alle anderen Faktoren die Zukunft des internationalen Systems beeinflussen. Das schmälert nicht die Bedeutung anderer Staaten, auch wird es keine bipolare Welt im Geiste des Kalten Krieges geben. Aber objektiv werden wir eine Zunahme der Konfrontation der beiden größten Mächte sehen, in der sich viele Komponenten, einschließlich der zivilisatorischen, offenbaren.

Autor: Fjodor Lukjanow, Chefredakteur der Zeitschrift „Russland in der globalen Politik“.